DE / EN
DE / EN
Irgendwo
Stefan Frank
+ Projekt-Info
+ Project-Info
- Projekt-Info
- Project-Info
+ Mehr Info
+ Artist Info
- Mehr Info
- Artist Info
»Irgendwo«
»Die Bilder könnten von irgendwo sein«: der abblätternde Putz an Hausfassaden, leere Straßen und Plätze, »Luv u forever« auf die Seite eines Hochhauses gesprayed, eine vom Wind verwehte Papiertüte, das Wort »Revolution« in den Putz eines zerfallenden Hauses gekratzt, das utopische Versprechen »Die Bürger gestalten ihre Stadt tätig mit« auf einer Säule vor einem Plattenbau, eine Tankstelle wie tausend andere, ein Trafokasten mit dem Wort »kalt« getagged, ein ins Dunkel führender Hauseingang. Überreste, Zeichen, verwischte und übermalte Spuren von Anwesenheit auf die Haut der Stadt gekritzelt.
Der französische Anthropologe Marc Augé spricht von Nicht-Orten: Orte, die nur noch reine Funktionalität sind und alle Markierungen der Identität ihrer Bewohner:innen verloren haben. Sie bleiben anonym, austauschbar – sie werden nicht länger bewohnt, sondern sind zu Orten einer permanenten Durchreise geworden. In diesem Sinne könnten die Bilder tatsächlich von »irgendwo« sein. Sind sie aber nicht. Hanau, Istha, Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Heidelberg, Müchen: Es sind sehr konkrete Orte, die in der jüngeren deutschen Vergangenheit zu Tat-Orten geworden sind und deren Namen wir jetzt als Schauplatz von Gewalt gelernt haben. Die Bilder, die wir in den Medien davon sehen, sind austauschbar: die weißen Anzüge der Spurensicherung, das weiß-rote Absperrband, Splitter, Trümmer, Körper, von Leichentüchern bedeckt; später dann die Rituale der Trauer und Anteilnahme, Kerzen, Blumen, Politiker:innen vor Mikrofonen; dann Versickern, Vergessen. An den Plaketten, die in der Nähe der Tatorte an die Toten erinnern sollen, gehen wir rasch vorbei auf dem Weg zum Supermarkt. Dann beginnt der Zyklus von Neuem: irgendwo anders.
Der jährliche Bericht über Politisch Motivierte Kriminalität (PMK), den das »Bundesministerium für Inneres und für Heimat« jedes Jahr heraus gibt, registrierte 2021 zum zweiten Mal in Folge über 50 000 Straftaten: »Irgendwo« ist ein Projekt, das immer weitergehen könnte.
Die Gewalt, die an diesen Orten stattgefunden hat, ist verschieden lang her: mal ist es ein Jahr, mal sind es vierzig. Was bleibt zurück? Der zum Scheitern verurteilte Versuch, den defekten, bruchstückhaften Aufzeichnungsapparat der Stadt wieder in Gang zu bringen und auf die Stimmen der Geister zu lauschen – eine Anrufung der Steine, in dem Bewusstsein, dass die Steine nicht antworten können und die Stimmen der Geister immer nur in unserem eigenem Kopf sind.
»Die Bilder könnten von irgendwo sein«: der abblätternde Putz an Hausfassaden, leere Straßen und Plätze, »Luv u forever« auf die Seite eines Hochhauses gesprayed, eine vom Wind verwehte Papiertüte, das Wort »Revolution« in den Putz eines zerfallenden Hauses gekratzt, das utopische Versprechen »Die Bürger gestalten ihre Stadt tätig mit« auf einer Säule vor einem Plattenbau, eine Tankstelle wie tausend andere, ein Trafokasten mit dem Wort »kalt« getagged, ein ins Dunkel führender Hauseingang. Überreste, Zeichen, verwischte und übermalte Spuren von Anwesenheit auf die Haut der Stadt gekritzelt.
Der französische Anthropologe Marc Augé spricht von Nicht-Orten: Orte, die nur noch reine Funktionalität sind und alle Markierungen der Identität ihrer Bewohner:innen verloren haben. Sie bleiben anonym, austauschbar – sie werden nicht länger bewohnt, sondern sind zu Orten einer permanenten Durchreise geworden. In diesem Sinne könnten die Bilder tatsächlich von »irgendwo« sein. Sind sie aber nicht. Hanau, Istha, Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Heidelberg, Müchen: Es sind sehr konkrete Orte, die in der jüngeren deutschen Vergangenheit zu Tat-Orten geworden sind und deren Namen wir jetzt als Schauplatz von Gewalt gelernt haben. Die Bilder, die wir in den Medien davon sehen, sind austauschbar: die weißen Anzüge der Spurensicherung, das weiß-rote Absperrband, Splitter, Trümmer, Körper, von Leichentüchern bedeckt; später dann die Rituale der Trauer und Anteilnahme, Kerzen, Blumen, Politiker:innen vor Mikrofonen; dann Versickern, Vergessen. An den Plaketten, die in der Nähe der Tatorte an die Toten erinnern sollen, gehen wir rasch vorbei auf dem Weg zum Supermarkt. Dann beginnt der Zyklus von Neuem: irgendwo anders.
Der jährliche Bericht über Politisch Motivierte Kriminalität (PMK), den das »Bundesministerium für Inneres und für Heimat« jedes Jahr heraus gibt, registrierte 2021 zum zweiten Mal in Folge über 50 000 Straftaten: »Irgendwo« ist ein Projekt, das immer weitergehen könnte.
Die Gewalt, die an diesen Orten stattgefunden hat, ist verschieden lang her: mal ist es ein Jahr, mal sind es vierzig. Was bleibt zurück? Der zum Scheitern verurteilte Versuch, den defekten, bruchstückhaften Aufzeichnungsapparat der Stadt wieder in Gang zu bringen und auf die Stimmen der Geister zu lauschen – eine Anrufung der Steine, in dem Bewusstsein, dass die Steine nicht antworten können und die Stimmen der Geister immer nur in unserem eigenem Kopf sind.
»Irgendwo«
The images could be from anywhere. The peeling plaster on house facades. Empty streets and squares. "Luv u forever" sprayed on the side of a building. A paper bag blown away by the wind. The word "Revolution" scratched into the wall of a decaying house. The utopian promise "Citizens actively shape their city" on a column in front of a highrise. A gas station like a thousand others. A transformer box tagged with the word "cold". A building entrance leading into the dark. Remnants and signs, smudged and painted-over traces of presence scrawled on the skin of the city.
The French anthropologist Marc Augé speaks of non-places: places that are purely functional and have lost all markings of the identity of their inhabitants. They remain anonymous, interchangeable. They are no longer inhabited but have become places of permanent transit.
But they are not. Hanau, Istha, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Heidelberg, Munich. These are very concrete places that have become crime scenes in Germany's recent past, and whose names we remember as sites of violence. The images we see of them in the media are interchangeable: the white suits of the forensic experts, the white and red barrier tape, splinters, debris, bodies covered by shrouds. Then later the rituals of mourning and sympathy, candles, flowers, and politicians in front of microphones. Finally, interest drying up, oblivion.
We quickly pass the plaques that are supposed to commemorate the dead near the crime scenes on our way to the supermarket. Then the cycle begins again: somewhere else.
The annual report on Politically Motivated Crime (PMK), issued each year by the "Federal Ministry of the Interior and for Home Affairs", registered over 50,000 crimes in 2021 for the second year in a row: "Somewhere" is a project that could go on seemingly without end.
Sometimes only a year has passed since the violence, sometimes it is forty. What remains? The futile attempt to restart the city's broken, fragmentary recording apparatus and to listen for the voices of the ghosts - an invocation to the stones, knowing that the stones cannot answer and that the voices of the ghosts are always only in our head.
The images could be from anywhere. The peeling plaster on house facades. Empty streets and squares. "Luv u forever" sprayed on the side of a building. A paper bag blown away by the wind. The word "Revolution" scratched into the wall of a decaying house. The utopian promise "Citizens actively shape their city" on a column in front of a highrise. A gas station like a thousand others. A transformer box tagged with the word "cold". A building entrance leading into the dark. Remnants and signs, smudged and painted-over traces of presence scrawled on the skin of the city.
The French anthropologist Marc Augé speaks of non-places: places that are purely functional and have lost all markings of the identity of their inhabitants. They remain anonymous, interchangeable. They are no longer inhabited but have become places of permanent transit.
But they are not. Hanau, Istha, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Heidelberg, Munich. These are very concrete places that have become crime scenes in Germany's recent past, and whose names we remember as sites of violence. The images we see of them in the media are interchangeable: the white suits of the forensic experts, the white and red barrier tape, splinters, debris, bodies covered by shrouds. Then later the rituals of mourning and sympathy, candles, flowers, and politicians in front of microphones. Finally, interest drying up, oblivion.
We quickly pass the plaques that are supposed to commemorate the dead near the crime scenes on our way to the supermarket. Then the cycle begins again: somewhere else.
The annual report on Politically Motivated Crime (PMK), issued each year by the "Federal Ministry of the Interior and for Home Affairs", registered over 50,000 crimes in 2021 for the second year in a row: "Somewhere" is a project that could go on seemingly without end.
Sometimes only a year has passed since the violence, sometimes it is forty. What remains? The futile attempt to restart the city's broken, fragmentary recording apparatus and to listen for the voices of the ghosts - an invocation to the stones, knowing that the stones cannot answer and that the voices of the ghosts are always only in our head.
Stefan Frank
Stefan Frank, geb. 1967 in Herne, Ruhrgebiet; Studium der Mathematik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; ich kam spät zur Fotografie: 2016 kaufte ich auf einem Flohmarkt in Brooklyn eine gebrauchte Minolta und mit einem Mal machte die Welt betrachtet durch den Sucher einer Kamera einfach mehr Sinn.
Stefan Frank
Stefan Frank, born 1967 in Herne/Ruhrgebiet, studied Math and Philosophy at the Ruhr-University Bochum. I came late to photography: in 2016 I found a used Minolta - suddenly the world made more sense when I looked at it through the viewfinder of a camera.
My projects circulate around my increasingly problematic relationship to the country I was born in. „Heartland“ is about the former steel and coal towns of the Ruhrgebiet. „A43/Südstr.“ is centered on a small forgotten patch of land, wedged between a highway and an expanding industrial area.
My projects circulate around my increasingly problematic relationship to the country I was born in. „Heartland“ is about the former steel and coal towns of the Ruhrgebiet. „A43/Südstr.“ is centered on a small forgotten patch of land, wedged between a highway and an expanding industrial area.
←
→